Achtung Bürokratiemonster: Wird der Arztberuf zum Bürojob?
Studien zufolge verbringen Ärzte deutlich mehr Zeit vor dem Bildschirm als mit ihren Patienten. Die hohe Bürokratielast wirkt abschreckend auf junge niederlassungswillige Mediziner. Kann die gewohnte hohe Versorgungsqualität noch gewährleistet werden?
Praxisärzte sitzen fast die Hälfte der Arbeitszeit am Computer
Eine amerikanische Studie beobachtete 57 niedergelassene Ärzte aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Kardiologie und Orthopädie über einen Zeitraum von insgesamt 430 Arbeitsstunden.1 Während der Öffnungszeiten der Praxen verbrachten die Ärzte dabei im Durchschnitt nur 27 % ihrer Zeit im direkten Kontakt mit ihren Patienten. Rund 49 % ihrer Zeit nutzten die Ärzte dagegen für die Bearbeitung der elektronischen Patientenakte und andere Büroarbeiten.1 Für Deutschland fehlen bisher vergleichbare aktuelle Studien unter niedergelassenen Medizinern.
Bürokratieindex 2019 leicht gesunken
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) erstellt allerdings seit 2016 einen jährlichen Bürokratieindex (BIX).2 In ihrem Bericht von 2019 gibt sie die Arbeitsbelastung niedergelassener Ärzte durch bürokratische Aufgaben mit über 55 Millionen Stunden an. Dies ist zwar ein leichter Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren (minus 1,93 %), die Bürokratielast ist jedoch nach wie vor sehr hoch: Pro Arztpraxis und Jahr werden in Deutschland 60 Arbeitstage allein für die Bewältigung der Informationspflichten, die durch die Selbstverwaltung auf Bundesebene verursacht werden.2 Besonders die steigenden Fallzahlen erhöhen den Bürokratieaufwand pro Arztpraxis. Die fünf folgenden Informationspflichten fielen 2019 besonders ins Gewicht:2
- Dokumentation des Hautkrebsscreenings (Dermatologen)
- Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit
- Verordnung von Krankenbeförderung
- Verordnung von Leistungen der medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter
- Begründungspflicht bei einigen Gebührenordnungspositionen
Zwei Vorschläge der KBV zur Verschlankung und Beschleunigung der bürokratischen Abläufe sind zum Beispiel
- der Verzicht auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Bagatellfällen und
- die Erarbeitung praxistauglicher Lösungen für die digitale Arztsignatur.2
Klinik: 5,2 Stunden Computerarbeit für 1,7 Stunden mit den Patienten
Ebenso deutlich zeigt sich das Ausmaß des Aufwands für Computerarbeiten bei Ärzten, die in Kliniken tätig sind. Eine Schweizer Studie untersuchte die Aufteilung der Arbeitszeiten von 36 Klinikärzten aus dem Bereich der Inneren Medizin. Diese wurden dazu insgesamt 696,7 Arbeitsstunden lang überwacht.3 Das Ergebnis: Während einer im Schnitt 11,6 Stunden dauernden Tagesschicht verbrachten die Ärzte 5,2 Stunden mit Computerarbeiten und nur 1,7 Stunden in direktem Kontakt mit ihren Patienten.3
MB-Monitor 2019 zeigt Überlastung der Klinikärzte
Eine aktuelle Befragung des Marburger Bundes (MB) macht die ausgesprochen hohe Arbeitsbelastung in deutschen Kliniken sichtbar. Jeder fünfte Klinikarzt (21 %) gab an, darüber nachzudenken, die ärztliche Tätigkeit ganz aufzugeben.4 Die permanente Arbeitsüberlastung sowie der hohe Zeitdruck, aber auch die Bürokratielast und die Dokumentationspflichten wurden als Gründe genannt. Bei der Online-Befragung im September und Oktober 2019 nahmen 6.474 angestellte Ärzte teil.4
Der tägliche Zeitaufwand für Verwaltungstätigkeiten und Organisation von Arbeiten, die über rein ärztliche Tätigkeiten hinausgehen (z. B. Datenerfassung und Dokumentation), ist seit 2013 deutlich gestiegen. Während im MB-Monitor 2013 nur 8 % der Befragten angaben, mehr als drei Stunden pro Tag mit Verwaltungstätigkeiten befasst zu sein, waren es 2017 schon 26 %. Im aktuellen MB-Monitor 2019 gaben 35 % der angestellten Ärztinnen und Ärzte an, pro Tag mindestens vier Stunden mit Verwaltungstätigkeiten und Organisation beschäftigt zu sein.4
Chancen und Risiken durch Digitalisierung
Beim Pressegespräch anlässlich der Veröffentlichung des BIX 2019 betonte Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstands der KBV, dass die Digitalisierung in der Medizin eine einmalige Chance biete, Ärzte vom bürokratischen Aufwand zu entlasten.5 Aktuell überwiege allerdings häufig das Gegenteil: So bewirke vor allem die halbherzige Umsetzung der Digitalisierung in der Medizin durch die Politik ein Mehr an bürokratischem Aufwand. Zu häufig entstehe ein nebeneinander aus analog und digital.5 Auch die Zulassungsverfahren müssen laut Kriedel verschlankt werden, damit sich wieder mehr junge Ärzte in die Selbständigkeit trauen.5
Quellen:
- Sinsky C, Colligan L, Li L et al. Allocation of Physician Time in Ambulatory Practice: A Time and Motion Study in 4 Specialties. Ann Intern Med 2016; 165: 753-760. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27595430
- Wittberg V, Kluge H-G, Rottmann H et al. Belastung transparent machen, Bürokratie abbauen. Der Bürokratieindex für die vertragsärztliche Versorgung, 2019, Kassenärztliche Bundesvereinigung. https://www.kbv.de/media/sp/BIX2019_Projektbericht.pdf
- Wenger N, Mean M, Castioni J et al. Allocation of Internal Medicine Resident Time in a Swiss Hospital: A Time and Motion Study of Day and Evening Shifts. Ann Intern Med 2017; 166: 579-586. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28135724
- Zusammenfassung MB-Monitor 2019. Marburger Bund (Januar 2020). Online verfügbar unter: https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/files/2020-01/MB-Monitor%202019_Zusammenfassung_Ergebnisse.pdf (abgerufen am 03.07.2020).
- Kriedel T. Pressegespräch. BIX 2019 – Der Bürokratieindex für die vertragsärztliche Versorgung (November 2019). Online verfügbar unter: https://www.kbv.de/media/sp/BIX2019_Statement_Presse_DrKriedel.pdf (abgerufen am 03.07.2020).
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